«Manchmal fühlt es sich an, als verätze es meine Nase»: Dieses Aufputschmittel erobert die National League

Im Schweizer Eishockey ist Riechsalz stark verbreitet. Während die Spieler auf mehr Fokus und Wach-Effekt schwören, will ein Klub das Mittel abschaffen. Doch wie viel Aberglaube und Leistungssteigerung steckt in diesem Salz? Ein Sportmediziner klärt auf.

In einem einzigen Atemzug verschiebt sich die Atmosphäre von Stille zu voller Konzentration, ausgelöst allein durch eine kleine Dose. Als er sie öffnet und tief einatmet, kneift er die Augen zusammen, runzelt die Stirn und rümpft die Nase. Die Wirkung ist unverkennbar. Der Bieler Verteidiger Yannick Rathgeb ist bereit für das Spiel.

Es ist nach Snus ein weiteres Aufputschmittel auf dem Schweizer Eis: Riechsalz. Entweder in Form von Salz in einer Dose oder als kleines Stäbchen, welches beides in der Apotheke erhältlich ist. Doch ob in der Dose oder als Stäbchen, der Inhalt bleibt gleich. Aromatisierter Ammoniak.

Es riecht wie eine Mischung aus Haarfärbemittel, Benzin und Desinfektionsmittel. «Es schmeckt sauer», fasst Rathgeb zusammen. Nico Gross vom EV Zug sagt: «Es ist ein strenger Geschmack.» Oder auch: Es stinkt. Die Dose oder das Stäbchen soll man nicht zu nah an die Nase halten, aber auch nicht zu weit, sonst bleibt der Effekt aus.

Der mentale Schalter in der Dose

Es soll die Spieler aufwecken. Den Fokus erhöhen. Wenn der 28-jährige Bieler Verteidiger Rathgeb es kurz vor dem Spiel riecht, sei er besser bei der Sache und konzentrierter, aber nicht nur: «Es ist wie ein mentaler Schalter.» Wenn er daran riecht, weiss er, dass es losgeht. Bei Gross ist es gleich: «Es gibt mir einen Kick», sagt er und fügt hinzu: «Damit bin ich auf Knopfdruck parat.»

Doch die Wirkung des Ammoniaks ist kurzlebig. Wenige Sekunden später verduftet der Geruch und damit die Wirkung. Manchmal wird es nach der Drittelspause erneut eingeatmet, selten aber vor den kurzen Einsätzen auf dem Eis.

«Aus medizinischer Sicht gibt es keine Evidenz, dass es etwas nützt», sagt Marcus Ganeo, Facharzt für Traumatologie und Sportmedizin bei der Hirslanden Klinik. Er fügt jedoch ein «Aber» hinzu: «Man vermutet, dass es einen psychologischen und mentalen Effekt auf die Spieler hat.» Denn diese Ammoniakdämpfe lösen einen starken Reiz in der Schleimhaut aus.

Man vermutet, dass es einen psychologischen und mentalen Effekt auf die Spieler hat.

Marcus Ganeo, Facharzt für Traumatologie und Sportmedizin Hirslanden Klinik

«Dadurch löst dies aus medizinischer Sicht einen Adrenalinschub aus», erklärt er weiter. Die Folge: Der Herzschlag wird schneller und die Atmung erhöht sich. Das wiederum hilft, dass sich Sportlerinnen und Sportler besser fokussieren können.

Von der Ersten Hilfe bis auf das Schweizer Eis

Riechsalz gibt es schon lange. Vom 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es etwa bei Personen mit Schwindel- und Ohnmachtsanfällen als Erste Hilfe unter die Nase gehalten. Heute hat dieses Salz aber keinen Platz mehr in der Ersten Hilfe. Dafür gibt es das Mittel immer mehr im Schweizer Eishockey.

Yannick Rathgeb begann etwa vor zehn Jahren Riechsalz zu riechen. Damals war es in der Schweiz noch nicht bekannt. Er roch das erste Mal daran in Nordamerika, wo er in der kanadischen Junioren-Liga spielte. «Zum ersten Mal riecht man zu stark daran und dann nimmt es dich fast», sagt Rathgeb und lacht. Erst als er wieder in die Schweiz wechselte, kam es hierzulande immer mehr an.

Zum ersten Mal riecht man zu stark daran und dann nimmt es dich fast.

Yannick Rathgeb, Eishockeyspieler EHC Biel

Seit fünf Saisons hat er seinen Arbeitsort in der Bieler Defensive, doch auch im Seeland ist das Salz beliebt – aber nicht mehr so, wie auch schon. «Als ich hierhergekommen bin, nahmen dies fast die Hälfte der Mannschaft», sagt er. Heute sind es noch rund fünf Spieler. Beim dreifachen Meister aus Zug sieht dies ähnlich aus.

Doch: «Es gibt wieder mehr, die es brauchen», sagt der EVZ-Verteidiger Nico Gross, der die Riechstäbchen ebenfalls in der kanadischen Juniorenliga entdeckte. «Ich habe es probiert und gemerkt, dass es einen Effekt auf mich hat», sagt der 23-jährige Bündner.

Ein Verbot in Davos

Zug und Biel sind längst nicht die einzigen National-League-Klubs mit Riechsalz-Schnüfflern im Team. Eine Umschau zeigt, fast in jedem Klub riechen einige Spieler an diesem Salz. Darüber sprechen möchten aber die wenigsten. Anders ist es beim HC Davos. Mit Andres Ambühl und Matej Stransky riechen gleich zwei Aushängeschilder des Rekordmeisters daran.

Doch erwünscht ist das Riechsalz beim Bündner Eishockeyklub nicht: «Wir versuchen von der Seite des Klubs seit einiger Zeit dieses <Mödeli> abzustellen», sagt Markus Glarner, Mediensprecher des HCD. Sie seien aktiv daran, dass Riechsalz und weitere Aufputschmittel in der Davoser Kabine verschwinden. «Bei den jungen Spielern lassen wir das nicht zu, bei den Älteren ist es primär eine persönliche Entscheidung, wo wir wenig Einfluss haben», so Glarner weiter.

Wir versuchen von der Seite des Klubs seit einiger Zeit dieses <Mödeli> abzustellen.

Markus Glarner, Mediensprecher des HC Davos

Rathgeb ist weder mental noch physisch davon abhängig. «Wenn man das Gefühl hat, es geht nicht mehr ohne das Riechsalz, geht es bereits ein bisschen in den Aberglauben», sagt Ganeo. Süchtig machen diese Salze gemäss dem Sportmediziner aber nicht.

Dennoch hat Gross in Zug seine Dosis erhöht. «Eine Zeit lang habe ich es nur in den Playoffs genommen, mittlerweile rieche ich vor jedem Spiel daran.» Beim Zuger Verteidiger sind es etwa hundert Stäbchen pro Saison, bei Rathgeb sechs Dosen. Der Bieler braucht das Riechsalz manchmal auch im Auto, wenn er merkt, dass er müde wird.

Von verätzender Nase bis zu Nasenbluten

«Manchmal fühlt es sich an, als verätze es meine Nase», sagt der Biel-Verteidiger. Das ständige Einatmen von Ammoniak hat auch Gefahren. «Der Reiz kann die Schleimhäute beschädigen oder verbrennen», sagt der Sportmediziner und fügt hinzu: «Im schlimmsten Fall gibt es Wassereinlagerungen in den Bronchien oder Nasenbluten.»

Das Riechsalz ist bei Kraft- und Leistungssportarten wie American Football oder Gewichtheben verbreitet. Im Boxsport wurde Riechsalz mittlerweile bei den meisten Wettkämpfen verboten. Denn benommene Boxerinnen oder Boxer werden dank dem Geruch wieder wach. Doch dadurch können ernste Symptome wie etwa bei einer Gehirnerschütterung verdeckt werden.

Im Eishockey ist es weder verboten noch auf der Dopingliste. Eines ist aber klar: Sobald der Fokus auf dem Eis verschwindet, kommt die kleine Dose wieder zum Zug. Mit einem Atemzug ist die Konzentration wieder zurück. Und der Gestank auch.


Hinweis: Dieser Artikel erschien am 2. November 2023 in allen CH Media Zeitungen.

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